Petit Pays Interpretation

Der Roman Petit Pays thematisiert die grausamen Geschehnisse in den zentralafrikanischen Ländern Burundi und Ruanda zu Zeiten des Bürgerkrieges und des Genozids (1992-1994). Er zeichnet sich dadurch aus, dass die Ereignisse aus der Perspektive eines zwölfjährigen Jungen erzählt werden.


Ende der Kindheit

Die gesamte Erzählung wird von einer melancholischen Nostalgie geprägt, da der Ich-Erzähler von seiner glücklichen Kindheit berichtet, die dann von den grausamen politischen Ereignissen überschattet wurde.

Dass Gabriels Kindheit zunächst sorglos und behütet wirkt, hat verschiedene Gründe:

Mit Zunahme der Gewalt verändert sich Gabriels Leben:

Universelle Erfahrungen:
Gabriel erinnert sich an Erfahrungen, die wahrscheinlich viele Leser:innen so oder so ähnlich auch gemacht haben, unabhängig davon, wo sie aufgewachsen sind (Weihnachten, Geburtstag, Abenteuer mit der Bande). Sie können sich also mit Gabriel identifizieren – er scheint eine „gewöhnliche“ Kindheit zu haben.

Weniger Abenteuer:
Die Bande unternimmt immer seltener etwas zusammen. Einige der Jungs radikalisieren sich. Die Gewalt, die Gabriel erlebt und mitbekommt, ist natürlich alles andere als universell und für die Leser:innen nur schwer nachvollziehbar.

Beziehung der Eltern:
Zu Beginn der Erzählung beschreibt Gabriel ausführlich die letzten Ausflüge, die sie alle gemeinsam als Familie unternommen haben. Obwohl sich seine Eltern auch da schon streiten, beschreibt er idyllische Wochenenden.

Unterschiedliche Entwicklung der Eltern:
Die Eltern streiten sich, wenn sie sich sehen. Während Michel versucht, die Gewalt von den Kindern fernzuhalten, ist Yvonne unmittelbar davon betroffen.

Kleine Probleme:
Eines von Gabriels größten Problemen ist, dass sein Fahrrad gestohlen wird. Als er es zurückbekommt und sagt, dass er es nie wieder benutzen will, wird er als verwöhnt bezeichnet. Es wird also deutlich, dass er behütet aufwächst und noch etwas naiv ist.

Bürgerkrieg und Genozid:
Obwohl Gabriel der Gewalt am liebsten aus dem Weg gehen will, betrifft sie immer mehr sein eigenes Umfeld. Von typischen „Kinderproblemen“ erzählt er jetzt nicht mehr.

Sackgasse als Schutz:
Die Sackgasse (l’impasse), in der Gabriel wohnt, ist ein geschützter Ort in einem eher wohlhabenden Stadtviertel. Alle kennen sich und die Kinder können sich frei bewegen und auf der Straße spielen.

Sackgasse als Falle:
Die Gewalt kommt in Gabriels Straße an, als Armands Vater und Prothé getötet werden. Die schützende Sackgasse hat sich jetzt eher zu einer Falle entwickelt, aus der Gabriel und Ana nur entkommen können, indem sie nach Frankreich ziehen.

Gabriel steht neben seinem roten Fahrrad und verschränkt wütend die Arme.
Die Geschichte vom Gabriels gestohlenem Fahrrad steht für seine behütete Kindheit vor Beginn des Krieges.

Gabriels Erinnerungen an seine schöne, behütete Kindheit sind gleichzusetzen mit dem Frieden. Mit der zunehmenden Gewalt endet also auch seine Kindheit.

Verlust

Je mehr Burundi und Ruanda von der Gewalt eingenommen werden, desto mehr verliert Gabriel, z.B.:

  • Seine Freunde
  • Die Beziehung zu seiner Mutter
  • Mehrere Familienmitglieder, die getötet werden
  • Den gewohnten Alltag und seine Freiheiten
  • Den Kontakt zu seiner französischen Brieffreundin Laure
  • Seine Heimat

Am Ende des Romans, bei seiner Rückkehr, fasst er zusammen:

« Je pensais être exilé de mon pays. En revenant sur les traces de mon passé, j'ai compris que je l'étais de mon enface. Ce qui me paraît bien plus cruel encore. »

Mechanismen der Gewalt

Durch Gabriels Augen erleben die Leser:innen, wie sich die Gewalt innerhalb einer Gesellschaft entwickeln kann, bis daraus ein Völkermord entsteht.

  • Im Prolog erklärt der Vater den Unterschied zwischen den einzelnen ethnischen Gruppen, wobei seine Beispiele (unterschiedliche Nasen) die Absurdität der jahrelangen Spannungen zwischen den Tutsi und den Hutu bereits andeuten.
  • Über die Familienmitglieder, besonders über Yvonne werden die Erfahrungen der aus Ruanda vertriebenen Tutsi verdeutlicht.
  • Yvonne ist eine der tragischsten Figuren des Romans. Sie selbst überlebt zwar, muss jedoch schwere Verluste erleiden und ist schwer traumatisiert. Als Gabriel sie wieder trifft, ist sie kaum wiederzuerkennen. Sie kann symbolisch für die Folgen des Genozids stehen.
Yvonne, Gabriels Mutter, trägt ein traditionelles afrikanisches Gewand.
Yvonne, Gabriels Mutter, symbolisiert das Schicksal der vertriebenen Tutsi.
  • An Gabriels Bande lässt sich erkennen, dass die Menschen nach und nach entweder flüchten oder sich an der Gewalt beteiligen.
  • Selbst besonders friedliebende Personen wie Gabriel beugen sich irgendwann dem Druck: Er tötet einen Unbekannten, von dem nicht mal klar ist, ob er der Mörder von Armands Vater ist.

Migration & Exil

Michel, Jacques und Madame Economopoulus dienen als Beispiele für Europäer:innen, die nach Afrika auswandern und dort einen priviligierten sozialen Status genießen. Vor allem Jacques symbolisiert dabei die Auswirkungen des Kolonialismus, was sich in seinem herablassenden und rassistischen Umgang mit seinen Angestellten zeigt.

Jacques ist ein älterer Mann mit Glatze, der eine belgische Flagge in der Hand hält und grimmig schaut.
Jacques steht symbolisch für den Einfluss der europäischen Kolonialmächte.

Über die Figur Yvonne wird dies kritisiert, da sie immer wieder auf die bestehende Ungleichheit zwischen Europäer:innen und Afrikaner:innen hinweist.

Yvonne und ihre Familie stehen hingegen für die unfreiwillige Migration und die Flucht vor Gewalt und Verfolgung. Einerseits hat die Migration der Tutsi zu den wachsenden Spannungen zwischen den Hutu und den Tutsi beigetragen, andererseits müssen wegen des Bürgerkrieges und des Genozids schließlich noch mehr Menschen flüchten.

Am Ende lebt Gabriel selbst im Exil, da er gezwungen war, Burundi zu verlassen. An seiner Figur lassen sich der Schmerz und die Sehnsucht nach Heimat, sowie die Schwierigkeiten mit der eigenen Identität erkennen.

Lesen & Schreiben

Im Lesen findet Gabriel Trost und Ablenkung. Auch das Schreiben von Briefen scheint ihm zu helfen, die Geschehnisse zu verarbeiten. Da der Autor des Romans in derselben Zeit in Burundi aufgewachsen ist, liegt also der Gedanke nahe, dass auch er im Schreiben des Romans seine Erlebnisse verarbeiten wollte.


Schreibstil

Poetisch:

  • Viele Metaphern und Vergleiche
  • Teilweise kindlich

Kulturell geprägt:

  • Verwendung von regionalem Dialekt ohne Übersetzung
  • Vermeidung von afrikanischen Klischees; diese werden kritisiert
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