L'Hôte erfüllt die zentralen Definitionskriterien einer Novelle. In den Figuren lassen sich verschiedene Parteien des bevorstehenden Algerienkrieges wiedererkennen.
Darus Verhalten
Darus Verhalten erscheint widersprüchlich:
- Einerseits will Daru zunächst aus Prinzip den Auftrag nicht erfüllen, weil dies nicht seine Aufgabe ist. Man könnte also zunächst denken, dass er gegen die Befehle der Kolonialmacht rebelliert.
- Andererseits gibt es keine Hinweise darauf, dass er sich gegen die Kolonialverwaltung auflehnt - nicht dagegen, dass er gegen seinen Wunsch auf der einsamen Hochebene arbeiten muss, nicht gegen die knappen Lebensmittellieferungen oder gegen den französischen Lehrplan.
Er scheint den Araber vor allem deshalb nicht ausliefern zu wollen, weil es seine Ehre als guter Gastgeber verletzen würde.
Gastfreundschaft
Der Titel der Novelle ist mehrdeutig, denn das französische Nomen hôte kann sowohl Gast (maskulin oder feminin) als auch Gastgeber (maskulin) bedeuten.
Die Gastfreundschaft von Daru ist in der Novelle ein zentrales Thema. Obwohl er weiß, dass der Araber jemanden getötet hat, nimmt er ihn bei sich auf wie einen gewöhnlichen Gast. In der algerischen Kultur spielt Gastfreundschaft eine wichtige Rolle, was sich z.B. in Ritualen wie dem gemeinsamen Teetrinken zeigt und ist für den Gastgeber oder die Gastgeberin eine Frage der Ehre.
Der Araber ist erstaunt darüber. Er fragt Daru z.B., warum er mit ihm isst. Im Gegensatz zum eher misstrauischen Balducci hat Daru keine Angst vor dem Araber. Er fragt ihn nach dem Grund für den Mord, will ihn also verstehen.
Durch diese Gastfreundschaft wird die Distanz, die eigentlich zwischen den beiden Männern herrscht, zumindest etwas kleiner und der Araber vertraut Daru genug, um mit ihm zu sprechen.
Wieso lässt Daru den Araber nicht direkt frei?
Obwohl Daru keine Angst vor dem Araber hat und ihn auf sein Verbrechen anspricht, empfindet er trotzdem Abscheu und Wut über den Mord. Indem er den Araber freilassen würde, würde er ihm eine Rückkehr in sein Heimatdorf ermöglichen. Die anderen Einwohnerinnen und Einwohner des Dorfes hatten sich sogar dafür ausgesprochen, ihn von der Strafe zu befreien.
Dass Daru sich dagegen entscheidet, heißt, dass er den Araber moralisch verurteilt und zu meinen scheint, dass er eine Strafe verdient hat.
Außerdem hat er vermutlich auch Angst davor, sich dem Befehl der Kolonialverwaltung so offensichtlich zu widersetzen.
Personen
Die drei Personen werden nicht auf die klassische Art charakterisiert - man erfährt kaum etwas zu ihren Persönlichkeiten.
Da die Novelle kurz vor Beginn des Algerienkrieges spielt, kann angenommen werden, dass die Figuren für verschiedene Bevölkerungsgruppen stehen.
Daru |
|
Balducci |
|
Der Araber |
|
Merkmale einer Novelle
L'Hôte erfüllt die zentralen Definitionskritereien einer Novelle:
- Sachlicher Erzählton
- Einzelbegebenheit: Ein einziger Konflikt, in sich geschlossen
- Einheit des Ortes und der Zeit
Schluss
Der Anfang und der Schluss bilden eine Rahmenhandlung, was auch typisch für eine (dramatische) Novelle ist.
Der Schluss (Daru allein in seiner Schule) spiegelt den Anfang, außer, dass es einen Wendepunkt im Leben des Protagonisten gab, der seine unbekannte Zukunft beeinflusst.
Wenn Daru den Araber direkt freigelassen hätte, hätte das wahrscheinlich Freiheit für beide bedeutet. Jetzt hat sich der Araber selbst entschieden, ins Gefängnis zu gehen. Seine arabischen Freunde drohen Daru mit Rache, sodass er nicht mehr nur einsam, sondern auch nicht mehr frei ist.
Am Ende hätte es keinen Unterschied gemacht, ob Daru den Araber ausgeliefert oder ihm selbst an der Weggabelung die Entscheidung überlassen hätte. In beiden Fällen würde er jetzt bedroht werden.
Albert Camus
So wie Daru war auch der Autor Camus ein pied-noir, da er französischer Abstammung war, aber in Algerien geboren wurde.
In Bezug auf den Algerienkonflikt hatte Camus eine unentschiedene Haltung. Obwohl er als pied-noir der Seite der französischen Kolonialmacht zuzuordnen war, sympathisierte er auch mit der algerischen Bevölkerung, die sich zu befreien versuchte. Er machte sich immer wieder öffentlich für einen möglichst friedlichen Kompromiss zwischen Frankreich und Algerien stark. Von beiden Seiten wurde er dafür kritisiert, dass er keine eindeutige Position einnahm.
Philosophie
Camus war, neben Jean-Paul Sartre, einer der wichtigsten Vertreter des Existenzialismus. Diese philosophische Strömung vertritt die Ansicht, dass der Mensch seine Existenz ist und diese Existenz geht allem voraus. Damit geht man von Grunderfahrungen aus, die für alle Menschen gleich sind (z.B. Angst, Freiheit, Verantwortung, Tod,...).
In L'Hôte zeigt sich, dass der Mensch keine neutrale Haltung haben kann, sondern immer eine Entscheidung treffen muss.