„Unter der Drachenwand“ ist ein Roman, der sich durch seine fiktive, aber sehr authentische Darstellung des Zweiten Weltkriegs auszeichnet. Durch die Berichte von vier unterschiedlichen Erzählern wird versucht, das kollektive Gedächtnis des Zweiten Weltkriegs abzubilden. Markante Motive sind die Gegenwärtigkeit und die Schuldfrage.
Literarische Form
Roman (fiktive Erzählung)
Besteht durchgehend aus vermeintlich realen Briefen und Tagebucheinträgen
Übergänge zwischen den Textsorten und den unterschiedlichen Erzählern werden nicht markiert
→ Irritationsmomente
Es wird so getan, als ob ein fiktiver Herausgeber die Briefe und Tagebucheinträge gesammelt und zusammengestellt hat
- Der Herausgeber meldet sich in den Nachbemerkungen offen zu Wort (Über das weitere Leben des nach England in Sicherheit gebrachten Sohnes Bernhard weiß ich nichts)
→ Es wird so getan, als ob die Figuren im Roman tatsächlich existiert hätten (siehe Authentizität)
Erzähler
Vier Erzähler geben Einblick in unterschiedliche Bereiche des Zweiten Weltkriegs:
- Veit Kolbe – Kriegsmüdigkeit bei Wehrmachtssoldaten
- Lore Neff – Katastrophale Luftangriffe
- Kurt Ritler – Heranwachsen im Krieg
- Oskar Meyer – Judenverfolgung
Kontinuierliche Ich-Perspektive
- Distanz wird abgebaut
- Gedanken und Gefühle werden vermittelt
- Empathie wird aufgebaut
Darstellung von mehreren Einzelschicksalen → Kollektives Gedächtnis des Zweiten Weltkriegs wird abgebildet
Drei Ich-Erzähler stehen in einer Beziehung zu Mondsee
- Veit Kolbe lebt in Mondsee
- Lore Neff ist die Mutter von Margot
- Kurt Ritler ist der Cousin von Nanni Schaller
→ Nur Oskar Meyer steht in keiner Verbindung zu den anderen Erzählern: Als Jude ist er nicht nur gesellschaftlich, sondern auch erzählerisch ein Außenseiter
Authentizität
Arno Geiger hat über mehrere Jahre hinweg rund zwanzigtausend Briefe aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs gelesen und sich umfassend mit diversen Einzelschicksalen befasst
Dies befähigte ihn, eine zwar fiktive, aber sehr authentische Geschichte zu schreiben
→ Die Schicksale im Roman sind ausgedacht, hätten aber tatsächlich so geschehen können
Historisch korrekt: Alle geschilderten Ereignisse (z.B. die Zerbombung von Darmstadt oder der Einmarsch der Deutschen in Budapest) sind auf den Tag genau exakt so geschehen
Arno Geiger: „Ich habe das Schreiben dieses Romans ein Jahrzehnt lang vorbereitet. Aber ich wollte nicht retrospektiv recherchieren anhand von Büchern, die über diese Zeit geschrieben worden sind, sondern unmittelbar aus der Zeit heraus. Das heißt, ich musste an Originaltöne herankommen, Briefe, Tagebücher. [...] Am Ende waren es wohl gegen zwanzigtausend Briefe, die ich gelesen habe. Man könnte auch sagen, die ich gesiebt habe. So bin ich an den Sand gekommen, aus dem ich das Haus gebaut habe. Ein erfundenes Haus aus echtem Sand. Die Geschichte ist erfunden, die Charaktere sind von mir erschaffen, aber die Details sind echt.“
Gegenwärtigkeit
Durch die Verwendung von Briefen und Tagebucheinträgen entsteht eine sehr geringe Distanz zwischen erlebendem und erzählendem Ich
→ Die Erzähler schreiben alles sofort auf, kurz nachdem sie es erlebt haben
Es bleibt für die Erzähler stets unklar, wie es weitergeht und wann der Krieg endlich endet
→ Nach fünf Jahren Krieg wirkte das Leben für die Menschen wie ein Schrecken ohne Ende
- Veit Kolbe: „Ich sagte mir nochmals: Der Krieg wird bald vorbei sein. [...] Und natürlich hoffte ich, dass es für mich gut ausging. Aber selbst wenn es für mich nicht gut ausging, war mir das baldige Ende lieber als dieser diffuse, nicht enden wollende, immer schlimmer werdende, in immer dunklere Jahre hineinführende [...] Spuk, in dem das Schlechte in den Menschen immer deutlicher zutage trat, auch bei mir.“ (S. 462)
Die Gegenwärtigkeit der Erzählung wirkt sich direkt auf die Hoffnungen und Ängste der Erzähler aus
Arno Geiger wollte diese unmittelbare Art des Erzählens explizit in seinem Roman etablieren:
- „Vor dem Hintergrund des Krieges und im Wissen um den drohenden Tod haben die Menschen geschrieben, geschrieben, geschrieben. Immer aus dem Moment heraus. Davon wollte ich erzählen: Wie fühlt es sich an, im Krieg zu leben? Nicht rückblickend, aus einem Abstand von Jahren oder Jahrzehnten. Sondern unmittelbar, im erlebten Moment, im Moment des Schreibens.“
Schuldfrage
Beispiel Veit Kolbe: Trägt er eine Mitschuld an den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs, obwohl er sich klar vom NS-Regime distanziert und gar nicht im Krieg kämpfen möchte?
→ Dies wollte Arno Geiger mit seinem Roman untersuchen:
„Die allermeisten Romane über die Zeit des Dritten Reichs konzentrieren sich auf Täter und Opfer. Doch was ist mit den vielen, die keine Täter waren, aber in mancher Hinsicht doch beteiligt? [...] Die den millionenfachen Mord an den europäischen Juden zugelassen haben durch Gleichgültigkeit oder weil sie eben [...] mit ihrem eigenen Schicksal beschäftigt waren. Ich denke, das betrifft sehr viele. Fünfzig Millionen. Und Veit Kolbe ist einer von ihnen.“
Im Roman beantwortet Veit Kolbe diese Frage mit einem klaren „Ja“. In der Szene, in der er in Hainburg auf Oskar Meyer trifft, erkennt er seine Mitschuld:
„Ich wusste, dass ich tatsächlich und unwiderruflich in diesem Krieg bleiben würde, egal, wann der Krieg zu Ende ging und was aus mir noch wurde, ich würde für immer in diesem Krieg bleiben als Teil von ihm. Es war schwer, es sich einzugestehen.“ (S. 453)
Die Schuldfrage lässt sich auch auf die heutige Zeit beziehen: Machen wir uns schuldig, nur weil wir etwas dulden und nicht aktiv verhindern? (z.B. Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer)
Verzögerte Entwicklung
Veit Kolbe beschreibt seinen Kriegseinsatz als „fünf verlorene Jahre“
Er weist Defizite im Vergleich zu der normalen Entwicklung eines 23-Jährigen auf:
- Hat sich noch nicht komplett von seinem Elternhaus abgelöst
- Hat wenige sexuelle Erfahrungen gesammelt
- Hat noch keine Erfahrung mit Beziehungen
- Fehlende Selbstfindungsphase: Was möchte ich aus meinem Leben machen?
→ Er steht stellvertretend für Millionen junge Männer, denen Krieg und Soldatendasein die wichtigen Jugend- und Entwicklungsjahre raubten
→ Sie sind „unfertig“, traumatisiert und erzogen zu und durch Gewalt
Mit der Beziehung zu Margot beginnt für Veit ein neues Leben / sein Leben erhält neuen Sinn