Quelle: Hans-Dieter Gelfert (1990). Wie interpretiert man ein Gedicht? Stuttgart: Reclam.
Fragt man Studenten der Literaturwissenschaft, bei denen man doch wohl am ehesten ein überdurchschnittliches Interesse an Literatur vermuten darf, nach ihrer Einstellung zur Lyrik, so wird man mit Betrübnis feststellen, dass diese bei den meisten die am wenigsten geliebte der drei klassischen Gattungen ist. Noch betrüblicher, geradezu niederschmetternd ist es zu hören, dass ihnen Gedichte durch das Interpretieren im Deutschunterricht restlos verleidet worden seien. Gewiss gibt es auch solche, denen der Zugang dadurch erst richtig eröffnet wurde, doch ist die abschreckende Wirkung bei Schülern so weit verbreitet und scheint so lange Zeit anzuhalten, dass sich schon mancher Deutschlehrer gefragt haben mag, ob es dann nicht besser wäre, auf die Behandlung von Lyrik ganz zu verzichten. Eine so radikale Konsequenz würde freilich bedeuten, dass dann auch bei denen, die durch den Unterricht zum Lesen von Gedichten motiviert werden, das Interesse ungeweckt bliebe, so dass die ohnehin sehr kleine Insel der Lyrikleser bald ganz aus der kulturellen Landschaft verschwände.
Dies wäre für die literarische Kultur einer Gesellschaft ein unersetzlicher Verlust; denn erst an der Lyrik erweist sich, ob Literatur für den Leser überhaupt noch den Status des Kunstwerks hat. Romane werden von den meisten nur als Lesefutter konsumiert. Theateraufführungen dienen der Unterhaltung, bestenfalls der Auseinandersetzung mit aktuellen Zeitproblemen. Der Kunstcharakter dieser Werke wird dabei vom Konsumenten oft gar nicht wahrgenommen. Nur in der Lyrik steht das Artifizielle so im Vordergrund, dass man sie gar nicht anders lesen kann als eben als Kunst. Ein Student der Germanistik, der vorgibt, sich für Literatur zu interessieren, aber bekennt, dass er für Lyrik keinen Nerv habe, ist wie ein Farbenblinder, der Malerei studiert. Gewiss ist niemand, der Gedichte langweilig findet, darum schon ein schlechterer oder weniger gebildeter Mensch. Aber eine Literatur, in der die Lyrik keinen zentralen Platz hat, wird sich fragen lassen müssen, ob sie dann überhaupt noch eine künstlerische und nicht nur eine kritische Widerspiegelung menschlichen Lebens wäre. Ein Verschwinden der Lyrik aus dem Deutschunterricht würde für die allgemeine Lesekultur bedeuten, dass die auch so schon schwach genug entwickelte ästhetische Sensibilität noch stärker verkümmert. Ehe man also durch einen gänzlichen Verzicht auf die Lyrikinterpretation das Kind mit dem Bade ausschüttet, sollte man lieber versuchen, das Bad für das Kind etwas lustvoller zu gestalten. [...]
Aber noch immer ist die Frage offen, weshalb man überhaupt interpretieren soll. Schüler haben oft eine instinktive Abneigung gegen das Reden über Gedichte. Sie empfinden es als ein Breittreten und Zerschwatzen von etwas, das man viel besser ohne Worte auf sich wirken lassen sollte. Deshalb weigern sich manche, ihre Lieblingsgedichte mit einer Interpretation zu besudeln. Nun ist sicher richtig, dass das Wesen eines Gedichts, seine spezifisch ästhetische Individualität, unaussprechlich ist. Aber soll man deshalb darüber schweigen?
Der Mensch ist seinem Wesen nach rational, d. h., er nimmt die Welt nicht in einem blinden Reiz-Reaktions-Schema wahr, sondern in Begriffen, er will sie begreifen; und er begreift sie, indem er sie versprachlicht. Alles, worüber Menschen reden, hört damit auf, bIoß subjektiv zu sein. Sprache ist intersubjektiv, sie ist Kommunikation zwischen einzelnen Subjekten. So ist auch das Reden über Gedichte nicht nur erlaubt, sondern notwendig, weil dies die spezifisch menschliche Form der Aneignung ist. [...] Das erkennende Versprachlichen eines intensiven ästhetischen Erlebnisses nimmt diesem etwas von seinem Glanz und seiner Unschuld. Doch dieser Verlust an undifferenzierter Spontanität wird mehr als aufgewogen durch den Gewinn an differenzierter Wahrnehmung. Differenzierung macht aus Intensität nuancenreiche Fülle. Das jederzeit wiederholbare und immer weiter vertiefbare Durchschauen der Kunstfertigkeit eines Gedichts verschafft auf die Dauer mehr intellektueIles Vergnügen als spontan überwaItigende Ersterlebnisse, die mit der Zeit verblassen.