Zur Theorie der Verskunst gehört auch immer die Praxis. Wenn lateinische Texte metrisch analysiert werden, werden die Verse skandiert.
Vorgehen beim Skandieren
1. Versmaß bestimmen
- Ein Elegisches Distichon erkennst du daran, dass der zweite Vers immer eingeschoben ist
2. Verschleifungen suchen
Elision: Endet ein Wort auf einem Vokal und beginnt das folgende Wort mit einem Vokal bzw. h + Vokal, wird der erste Vokal gestrichen
Synaloephe: Endet ein Wort auf Vokal + m und beginnt das folgende Wort mit einem Vokal bzw. h + Vokal, wir der erste Laut verschmolzen
Aphärese: Wenn ein es/est nach einem Vokal am Wortende folgt, fällt das e von es/est weg; auch wenn ein es/est nach einem Vokal + m folgt
3. Alle feststehenden Versfüße einzeichnen
Das erste Element im Hexameter ist immer eine Länge
Der fünfte und sechste Versfuß im Hexameter sind immer gleich
- Daktylus und am Ende Länge + anceps
Diese beiden Regeln gelten auch im Hexameter des Elegischen Distichons
Im Pentameter ist das Element vor der Mitteldihärese immer eine Länge
Auch das erste Element ist immer eine Länge
Die zweite Hälfte des Pentameters besteht immer aus zwei Daktylen und einer Länge am Ende
4. Auf Natur- & Positionslängen, Diphthonge, Vokal vor Vokal, muta cum liquida und auf bestimmte Deklinations- & Konjugationsendungen sowie Tempus- & Moduszeichen achten
5. Die restlichen Längen und Kürzen einzeichnen
Beispiel
- Das folgende Beispiel stammt von Catull; es ist Carmen 85
1. Versmaß bestimmen
- Hier siehst du, dass der zweite Vers eingerückt ist, deswegen kann es nur das Elegische Distichon sein
2. Verschleifungen suchen
Eine Elision gibt es direkt bei den ersten beiden Wörtern: odi et ...
-> der erste Vokal, also das i von odi wird gestrichen und mit et verschliffen
Eine zweite Elision gibt es bei ... quare id ...
-> der erste Vokal, also das e von quare wird gestrichen und mit id verschliffen
Eine dritte Elision gibt es im zweiten Vers bzw. im Pentameter: .. sentio et ...
-> der erste Vokal, also das o von sentio wird gestrichen und mit et verschliffen
3. Alle feststehenden Versfüße einzeichnen
(Hinweis: Es ist einfacher, wenn du von hinten anfängst, den Vers zu skandieren.)
Im Hexameter
Der sechste Versfuß im Hexameter ist eine Länge und ein anceps
-> also über dem zweiten i von requiris ein x und über dem ersten i von requiris eine Länge einzeichnen
Der fünfte Versfuß im Hexameter ist ein Daktylus
-> also über dem e von requiris eine Kürze, über dem e von fortasse eine Kürze und über dem a von fortasse eine Länge einzeichnen
Das allererste Element im Hexameter ist eine Länge
-> also über dem o von odi eine Länge einzeichnen
Im Pentameter
Die zweite Hälfte vom Pentameter besteht aus zwei Daktylen und einer Länge am Ende
-> über dem letzten Vokal im Vers eine Länge einzeichnen, also über dem o von excrucior
-> über dem i von excrucior eine Kürze, über dem u von excrucior eine Kürze und über dem e von excrucior eine Länge einzeichnen
-> über dem e von et eine Kürze, über dem i von sentio eine Kürze und über dem e von sentio eine Länge einzeichnen (Achtung: Das o von sentio wurde aufgrund der Elision gestrichen!)
- Vor diesen zwei Daktylen ist die Mitteldihärese (Sprechpause)
Der Vokal vor der Mitteldihärese ist lang
-> also über dem zweiten i von fieri eine Länge einzeichnen
Das allererste Element ist lang
-> also über dem e von nescio eine Länge einzeichnen
4. Auf Natur- und Positionslängen, Diphthonge, Vokal vor Vokal, muta cum liquida und auf bestimmte Deklinations- & Konjugationsendungen sowie Tempus- & Moduszeichen achten
(In der Reihenfolge abarbeiten)
Im Hexameter
Das a in quare ist eine Naturlänge
-> Länge über dem a von quare einzeichnen (Achtung: Das e von quare wurde gestrichen und mit id verschliffen!)
Das o in fortasse ist eine Positionslänge, weil nach dem o zwei Konsonanten folgen
-> Länge über dem o von fortasse einzeichnen
Das zweite a in faciam ist eine Positionslänge, da nach dem a zwei Konsonanten folgen
-> Länge über dem zweiten a einzeichnen
Das i in id ist eine Positionslänge, weil nach dem i zwei Konsonanten folgen
-> Länge über dem i von id einzeichnen
Das e in sed ist eine Positionslänge, weil nach dem e zwei Konsonanten folgen
-> Länge über dem e von sed einzeichnen
Das i in faciam ist eine Kürze, weil danach ein weiterer Vokal folgt
-> Kürze über dem i von faciam einzeichnen
Im Pentameter
Das erste i in fieri ist eine Kürze, da nach dem i ein weiterer Vokal folgt
-> Kürze über dem i von fieri einzeichnen
Das i in nescio ist eine Kürze, da nach dem i ein weiterer Vokal folgt
-> Kürze über dem i von nescio einzeichnen
Im Hexameter
Das o in amo ist eine Länge, da die Personalendung -o im Präsens immer lang ist
-> Länge über dem o von amo einzeichnen
5. Die restlichen Längen und Kürzen einzeichnen
- Die restlichen Längen und Kürzen können oft über das Ausschlussverfahren eingezeichnet werden
- Du weißt nämlich ja, wie viele Versfüße ein Elegisches Distichon hat
Im Hexameter
Das erste a in faciam kann nur eine Kürze sein, damit der Daktylus aufgeht
-> Kürze über dem a von faciam einzeichnen
- Bis jetzt hast du fünf von sechs Versfüßen vollständig eingezeichnet, einen weiteren brauchst du also noch
Das a in amo und das e in et müssen jeweils eine Kürze sein, damit der Versfuß und das Versmaß aufgeht
-> Kürze über dem a von amo und Kürze über dem e von et einzeichnen (Achtung: Das i von odi wurde aufgrund der Elision gestrichen!)
Im Pentameter
Das e von fieri muss eine Kürze sein, damit der Versfuß aufgeht
-> Kürze über dem e von fieri einzeichnen
Das o in nescio muss eine Kürze sein, damit der Versfuß und das Versmaß aufgeht
-> Kürze über dem o von nescio einzeichnen
Zum Schluss musst du die Penthemimeres einzeichnen, die nach dem fünften Halbfuß steht
-> Penthemimeres zwischen id und faciam einzeichnen